Die Opferschale zu Alt Jabel
Im Jahre 1229 hatten Mönche aus Amelungsborn (nahe der Weser) in Eldena ein neues Kloster errichtet und predigten von hier aus das Christentum, aber zunächst mit wenig Erfolg. Da schritt man zum Bau der Jabelschen Kirche, der ersten im Kern der gewaltigen Jabelheide.
Aber die Slawen hielten sich vom Christentum fern und dienten ihren eigenen Göttern. Sie standen im Bann und in der Gewalt der eigenen Priester, die mit furchtbarer Rache der alten Götter drohten, wenn die Slawen Christen würden. Außerdem haßte man die christlichen Priester und die Nonnen aus Eldena, denn in ihnen sah man die Vertreter der Sachsen, die unter Führung Heinrichs des Löwen in erbarmungslosen Kämpfen die meisten ihrer Dorfbewohner erschlagen oder vertrieben und ihnen die Heimat genommen hatten. Auch verstanden die Slawen die Predigten der christlichen Glaubensboten schlecht oder gar nicht; denn diese beherrschten die slawische Sprache nicht, predigten deutsch, und außerdem wandte man in den eigentlichen Gottesdiensten fast nur die lateinische Sprache an.
Dem Kloster Eldena war eine steinerne Opferschale in die Hände gefallen. In dieser Schale war einst das Blut der den Göttern dargebrachten Menschen und Opfertiere aufgefangen worden.
Zur Einweihung der neuen Kirche in Jabel im Jahre 1256 hatte man die slawische Bevölkerung aus dem Heidegebiet zusammengetrieben. Die Nonnen aus Eldena waren in ihrem feierlichsten weißen Ornat erschienen. Der beste Prediger, der Bruder Lienhard, hielt die Weihpredigt. Auch einige kirchliche Gesandte aus der Bischofsstadt Ratzeburg waren erschienen.
Im feurigen Eifer erzählte Bruder Lienhard den Slawen von der Allgewalt des Christengottes und von der Ohnmacht ihrer eigenen Götter. Alles, was ihre eigenen Götter ihnen bislang vorgeredet hätten, sei unwahr. Das würde er ihnen jetzt handgreiflich beweisen.
Die alte Opferschale wurde feierlich hereingetragen und vor den Altar gelegt. Da ergriff Lienhard einen schweren Hammer und zerschlug vor den Augen der versammelten Zuhörer die Steinschale in zwei Teile. Den Slawen stockte der Atem. „Seht!“ rief er dann mit weitschallender Stimme in fanatischem Glaubenseifer in die volle Kirche hinein, „wenn eure Götter Radegast, Swantewit, Zernabock oder Belabock oder eure Göttin Siwa wirklich existieren und große Macht besitzen, dann mögen sie mich hier auf dieser Stelle zerschmettern!“ Totenstille herrschte minutenlang in dem Kirchenraum. Viele Besucher waren eingeschüchtert. Nichts geschah. Wie sollte denn auch. Kein Blitzstrahl zuckte hernieder, kein Erdboden tat sich auf, die Kirchenmauer wankte nicht, um den Frevler zu vernichten. Bruder Lienhard nahm wieder das Wort: „Eure Götter sind ohnmächtig. Ihr habt es selbst gesehen. Allmächtig ist nur der Gott, den wir euch predigen und unter dessen Schutz ich und alle Christen stehen.“
Als Wahrzeichen und zum Gedenken an die Begebenheit wurde darauf die eine Hälfte der Opferschale in die Ringmauer der Kirche vor aller Augen eingemauert.
Durch den symbolischen Vorgang mit der Zerschlagung der Schale hoffte Lienhard, den Widerstand der Slawen gegen das Christentum gebrochen zu haben. Die andere Hälfte der Schale, hatte er als Andenken an diesen Tag mit ins Kloster nach Eldena genommen und auf seinen Betsessel gestellt. Noch lange saß er auf und überdachte den Verlauf des Tages in Jabel. Endlich suchte er sein hartes Lager auf.
Der Prediger hatte noch nicht lange geschlafen, da erwachte er durch ein Geräusch. Das Stundenglas zeigt die 12.Stunde. Der Priester hörte Schritte. Dazwischen ertönten Worte, rauh und zornig. Er richtete sich auf. Die Tür seiner Zelle öffnete sich, und in den vom Mondlicht fahl erhellten Raum trat ein Mann mit struppigem Bart, tiefliegenden, stechenden Augen, einem Schläfenring um die Stirn und einen runden Hut auf dem mit schwarzem Kraushaar bedeckten Kopfe. Drohend hob er dem überraschten Priester sein kurzes und breites Schwert mit dem hölzernen Griff entgegen. „Warum hast du mich in meinem Steingrab beunruhigt und mir die letzte Ruhe gestört?“
„Wer bist du, und was willst du hier zu nächtlicher Stunde in meiner einsamen Klause? „In deiner Klause sagst du? Du hast mein Grab umwühlen lassen und mir meine Opfergaben geraubt und sie hier in dies Haus tragen lassen. Dadurch ist dein Haus zu meinem Haus geworden. Denn siehe, ich bin älter als du und habe das Land vor dir besessen! Dein Hausrecht ist mein Hausrecht gewesen. Ihr seid gekommen ins Land meiner Väter, ihr Sachsen, als Friedlose , als Heimatlose, ja als Räuber und Barbaren. Ihr nanntet euch Christen und fromme Menschen und habt so viele meiner Stammesgenossen dahingeschlachtet, nur um euch in den Besitz unseres Landes, unserer Heimat zu bringen. Merke auf, was ich dir sage! Nur eine kurze Spanne Zeit an der Unendlichkeit der Ewigkeit gemessen sind zwar wir Slawen Herren dieses Landes gewesen, und auch ihr Sachsen werdet nicht ewig dieses Land besitzen. Es ist schon die Axt geschärft, um den morschen Baum zu fällen. Euer großer Herzog, der sich prahlerisch der „Löwe“ nannte, ist schon dahin. Er ist in der Verbannung gestorben und lebt nicht mehr. Darum sendet eure Wurzel aus und schöpfet und zehret Wasser des Lebens aus dem heimatlichen Boden, sonst werdet ihr nimmermehr hier grünen und bodenständig werden, und andere Völker werden es mit euch so machen, wie ihr es uns angetan habt, ihr werdet vergehen und man wird über euch hinwegreiten.“
„Du fragtest nach meinen Namen? Ich werde Bruder Lienhard genannt.“ „Bruder Lienhard, was soll das heißen?“ „Ich bin ein Mönch und diene der Kirche als solcher mein ganzes Leben lang, meinem Kloster und damit der Kirche.“ „Du bist also ein Dienstmann?“ „Ja.“ „Ich hingegen bin ein freier Mann. Mein Name ist Boleslaw, das heißt der Ruhmreiche. Mein Wappen ist die goldene Slawenkrone in blauem Feld. Während meines ganzen Lebens waren wir Slawen hier Herren. Siehst du mein Schwert mit dem faustgerechten Haft? Was bemerkst du daran?“ „Ich sehe Kerben am Handgriff“ „Du hast recht geschaut. 92 Kerben habe ich hier eingeschnitten. 92 Sachsen sind durch mich und mein Schwert gefallen. Jeder Schnitt bedeutet das Sterbezeichen eines Feindes.“
„Mit zehnfacher Übermacht seid ihr Fremdlinge ins Land gekommen, das Vierfache der eigenen Toten haben wir bei der Verteidigung unserer Heimat von euren Männern erschlagen. Aber ehe ich fiel von 32 Mann überrumpelt und umzingelt, mußten erst 92 Feinde ins Gras beißen. Daher mein Name Boleslaw, der Ruhmreiche.
Reglos hatte der Priester der Rede gelauscht. Dann sagte er: „Du hast recht. Die Sachsen, meine Stammesgenossen, haben euch überfallen, viele von euch erschlagen und euch vertrieben und die Heimat genommen. Ich bin ein Priester, diene dem Kloster und der Kirche, predige den Frieden und die Liebe. Darum verurteilt mich nicht und laßt mich die Steinschale behalten, zum Zeichen, daß ich recht gewirkt habe und daß sie der Nachwelt erhalten bleibt. Denn dies letztere hat für die Geschichte und die Wissenschaft großen Wert.“
„So seid ihr Menschen von heute! Ihr predigt Liebe und Achtung dem Alten gegenüber und scharret wie Würmer die Erde und die Gräber durch nach den Gebeinen und den Geräten der Vorfahren. Solltet ihr nicht lieber die Grabstätten der Alten ehren und in Ruhe lassen und sie mit heiligen Hainen bepflanzen? Merke auf und höre es wird einst die Zeit kommen, wo auch deine Gebeine und alles was dir lieb und teuer war, der Erde übergeben werden. Dann wird auch deine Gruft durchwühlt werden, und dann wird auch dein Geist beunruhigt und wird kommen und von den Menschen zurückfordern, und ihm wird gleichfalls die Antwort werden.
Die Nachwelt und die Wissenschaft wollen es! Wissenschaft ist keine Bildung und keine Herzenssache! Bruder Lienhard, so wie du deine Altvordern behandelst, wirst auch du einst behandelt werden. Merke dir das und handle danach! Denn das ist dienende Liebe, von der du sprichst!“
Also sprach der Geist des Slawen und verschwand leise. Ob er Erfolg mit seiner Warnung und seiner Mahnung gehabt hat? Urteilt selbst! Doch soll der Priester Lienhard fortan sehr nachdenklich und ernst geworden sein, was sonst gar nicht seine Art war, und sich bald nach seiner Heimat, dem Sachsenland, zurückgemeldet haben. Auch die halbe Schale nahm er mit, ward aber zeitlebens darüber nicht froh.
Übrigens ist die vor Jahrhunderten eingemauerte Hälfte der Opferschale bis auf den heutigen Tag in einer Wand der alten Kirchenruine neben der neuen Kirche in Alt Jabel aufzufinden.
Hans Ulrich Thee